Zuckerlächeln an Hundstagen

So wie ein heftiger Regenguss die Luft reinigt, so reinigt gutes Schreiben die Psyche. Sich selbst das Schreiben zu gestatten hat etwas zutiefst Richtiges. Und man tut es, indem man anfängt – wo man eben gerade ist.

Julia Cameron

„Von der Kunst des Schreibens …“

Seit Tagen peitscht der Wind beständig durch die Stadt. Nicht gewaltsam – kontrolliert, wie ein Künstler tief in sein Werk vertieft. Es klingt, als wolle er uns etwas mitteilen, vielleicht etwas ankündigen. Doch wir ignorieren ihn. Verfluchen ihn gar. Tief eingewickelt in unsere Stoffe, während wir uns zwingen einen Sonntagsspaziergang durch die Stadt zu machen. Man muss ja mal raus. Man muss ja auch Stoßlüften.

Der Himmel ist grau, wie man es in Norddeutschland erwartet. Es scheint, als hätten heute nicht einmal die Möwen besonders Lust darauf.

In unmittelbarer Nähe läuten Kirchenglocken gegen den Wind. Auf der Straße geht ein Paar mit einem jungen Hund spazieren. Wie viel Freude kann in einem so kleinen Wesen nur stecken?  Jeder Meter ist ein Abenteuer.

Ich muss gerade an das Werk des brasilianischen Künstlers Vik Muniz denken (Portraits of the Sugar Children). Es entstand in einer Region, in der viel Zuckerrohr angebaut wird. Vik Muniz hielt die Leichtigkeit der spielenden Kinder in Porträts fest. Welche(s) Material/Technik er dafür nutzen sollte, kam ihm als er die gebrochenen Erwachsenen, ihre Eltern kennenlernte. Der Künstler fragte sich, was dazwischen passiert sei. Wie kam es zu diesem Kontrast? Was transformierte diese Frohnaturen, zu diesem ausgequetschten Dasein? Die Antwort war: der Zucker. Die Arbeit auf den Plantagen hat ihr Leben zerrieben.

Daran musste ich gerade denken. Hunde bleiben meist glücklich, wenn sie gut behandelt werden. Sie wedeln mit dem Schwanz, wenn sie ihre Geliebten sehen. Sie bellen, wenn sie sich über etwas so freuen, dass ihr Glück in die Welt gebrüllt werden muss. Nur wenn sie alt werden, dann schwindet dieser Enthusiasmus langsam. Dann liegen sie viel da, während vielleicht Welpen um sie herum springen und spielerisch an ihren Ohren kauen. Die Alten ruhen, als würden sie nur mehr warten, auf das Unvermeidliche.
Manchmal beobachte ich diese Hundebesitzer, die ihre jungen Hunde erziehen wollen. Es ist mir bewusst, dass das wohl – vor allem in einer Stadt – nötig ist, trotzdem sticht mein Herz beim Anblick. Wenn die Kleinen überglücklich Gassi gehen und Frauchen zieht hart an der Leine, weil der Hund ihr Tempo halten soll, neben ihr gehen. Auf sie hören. Wie der Enthusiasmus des Tieres bestraft wird. Folgsamkeit belohnt. Zügellose Freude bringt Schmerz. Brav hochblicken und die Launen des Über-Ichs deuten kann Leckerlis bringen.

Wenn es rot wird, habe ich mal gehört, soll man den Hund mit kleinen Kieselsteinen bewerfen, damit er Straßenkreuzungen mit Schmerzen assoziiert und lernt stehen zu bleiben und auf ein Kommando zu warten. Der beste Freund des Menschen muss unsere Traumata wohl auch integrieren. Zum Glück gibt es Coaching für Hunde.

Wohl wollte ich auch nicht auf Hunde hinaus, sondern dachte an diese Kinder, denen die Maschinerie die Freude zermalmt. Was nicht passt, wird passend gemacht. Es wird gelüftet, egal ob ein Hurrikan durch die Stadt zieht. Spaziergehen ist gesund. Wir fahren auf Urlaub, egal was es kostet. Der Natur, oder den Menschen vor Ort. Von Epidemien will ich nichts hören. Ich will ans Meer und Selfies machen.

Der achtundfünfzigste Spruch des Tao Te King, ich lese jeden Tag einen, sagte mir heute: Ich soll Ganzheit statt Glück oder Unglück wahrnehmen. Das nach jeder Nacht ein Tag folgt. Es von der Talsohle nur mehr aufwärtsgehen kann. „Unglück ist das, woran sich das Glück lehnt, Glück ist das, worin sich das Unglück versteckt …“ Gute Nachricht für die Länder, die seit Jahrzehnten an Dürre leiden, irgendwann (in astronomischen Dimensionen) kommt wieder Fülle. Das ist das Gesetz des Lebens. Nehmet und trinket alle daraus …
Der Kritiker in mir fragt mich: „na und jetzt? Wie kriegst du jetzt den Bogen, um diesen Zeilen irgendeinen Sinn anzudichten?“ Doch das will ich hiermit gar nicht. Es sind nur Gedanken. Der Fehler wäre, sich an ihnen festzuhalten und sie zu sezieren. „Lass ziehen, was geht…“
Der Wind singt weiter an meinem Fenster. Ich glaube, ich muss lüften. Wuff!

Zuckerrohrpresse, Rio de Janeiro, 2012

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