Tomatenköpfe und Waldgeister

Der heutige Tag begann mit kleinen Wundern. 

Als ich nach dem Aufstehen  aus dem Fenster blickte, sah ich einen Schweinswal kurz in der Förde  auftauchen. Das erfüllte mich schon mit Freude. 

Danach ging ich in den  Volkspark joggen. Die letzten Wochen brachten dem Deutschen Norden alle  Ehre, also viel Feuchtigkeit, Kälte und Wolkenschwere Tage. Auch heute  nieselte es leicht, als ich vor die Tür trat.

Der Boden des Parks war aufgeweicht, was mich nicht besonders störte. Ich sah es als zusätzliche Herausforderung.

Vorgestern  hatte ich den falschen Weg gewählt und war wieder am Ufer gelandet.  Nach dem Stampfen auf den Waldpfad kam ich mir auf dem Beton wie ein leichtfüßiger Strauß vor.

Der  Volkspark in Flensburg ist weit verzweigt und verwandelt sich auf  manchen Pfaden in einen prächtigen Stadtwald. Denn im Gegensatz zu den  Bildern eines flachen Nordens, erheben sich in der Flensburger Förde,  dank Schürfung einer ehemaligen Gletscherzunge und all dem Geröll, die diese in den Jahrtausenden transportiert hat, zwei Erhebungen. Genauer gesagt Moränen-Kliffküsten. Im  Alpenraum würden die Haufen keinem auffallen. Falls man es bezeichnen müsste,  würde man es Hügel, aus Mangel einer anderen Formulierung, nennen. 

Die beiden Flensburger „Hügel“ kennt man hier als Westliche und Östliche Höhe. Wobei „östliche“ kaum verwendet wird. Der Volkspark liegt in Fruerlund,  was so viel wie Frauenhain bedeutet, nach meinen Kenntnissen. Der Stadtteil hat noch Ortsteile mit lustigen Bezeichnungen wie Tomatenberg, Blasberg, Bohlberg und Finisberg. Was wie wohl schon geahnt den Respekt  der Norddeutschen vor Anhöhen widerspiegelt. Das ist auch der Grund  wieso E-Bikes in Flensburg so beliebt sind, wie soll man denn sonst  diese „Berge“ hinaufkommen?

Vielleicht heißt er ja deswegen  Blasberg, weil er auf 40 Meter Höhe liegt und man total außer Atem ist,  wenn man nach alpinistischen Höchstleistungen da ankommt – beim Rewe.

So  lief ich also durch das unwegsame Gelände der Berglandschaft. Ich hatte  einen Waldweg gewählt, um meine Unsportlichkeit nicht zu sehr zur Schau zu stellen. Man imaginiere im Moment der räudigsten Anstrengung, treffe man eine Gruppe Schulkinder, die auf Ausflug durch  den Park spaziert. Während man aus den Ohren dampft und der  überschüssige Speichel droht einen zu ersticken. Sie würden auf meinen  Tomatenkopf zeigen und mein Schnaufen veräppeln.

Ich konnte ja hier  keine Schwäche zeigen, nachdem ich Österreicher mich über ihre „Berge“  lustig gemacht hatte. Dämlichen Gnome! Lacht nur so lange ihr könnt.  Bald gibt es Zeugnisse und dann Arbeitsamt.

So trieb mich die  gestörte Selbstwahrnehmung in unwegsames Gebiet. Ungesehen lief ich wie  die Göttin Diana. Angespornt durch meine Selbstüberwindung, meine  Entschlossenheit dem verregneten, grauen Tag mit einem Lachen  entgegenzutreten, dem pumpenden Blut und der erfrischenden Luft in  meinen Lungen, wechselte ich zu noch kleineren Pfaden. Hinein in den  Matsch. Aufwärts. Abwärts. Bei den glitschigsten Aufstiegen halfen mir  Äste, Steine und Wurzeln. Dann kam ein Punkt auf einem Erdhügel, wo mir  klar wurde, das ist so steil, auf zwei Beinen komme ich da unten nicht an. 

Dann wieder mithilfe der Bäume hinab und einen anderen Weg entlang.  An vom Winter geknackten Gehölze vorbei. Über Baumstämme hinweg. Einen  neuen Weg entdeckt. Dann landete ich auf der Fresse. Der Matsch war beim  Aufstieg unter mir weggerutscht und hatte mich gefällt. Touché!

Hier  gab es kein Weiterkommen. Also wieder zurück, durch den Parcours der  gebrochenen Bäume. Ich bog um einen der Erdhügel und bekam die  Belohnung. Auf der Waldlichtung fraß friedlich ein Reh. Es erblickte  mich und mit luftigen Hopsern hatte es die Strecke, für die ich gerne eine Medaille empfangen würde, hinter sich gelassen und verschwand im Gestrüpp aus meinem Sichtfeld. 

Der Geist des Waldes war das zweite Wunder am heutigen Tag. Nun ist es elf Uhr morgens. Mit Wasser und Wald bin ich  heute schon mal in Kontakt getreten. Wahrscheinlich ist heute der Tag, an dem mir eine Möwe auf den Kopf scheißt.

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